
Qualität aus Leidenschaft
Von Dr. Ludwig Hasler
Kommt Qualität von Qual? Sicher auch: Wir müssen uns quälen können – und wir müssen leiden am noch nicht so Qualifizierten. Gleichzeitig kommt Qualität aus dem Vergnügen am Besseren, der Leidenschaft zum Vollkommeneren.
Wir müssen die Dinge im Lichte der Möglichkeiten sehen. Wie aber bilden wir unseren Möglichkeitssinn?
– Ein Artikel über gesellschaftliche wie individuelle Konditionen der Qualität.
Unsere Lage ist ganz einfach zu beschreiben:
Wir müssen besser werden – oder jemand anderes
wird besser als wir. Wie werden wir besser?
Klassische Antwort: durch Weiterbildung. Master
in Communication. MBA im Management.
Perfekt. Sündenteuer, rechnet sich jedoch. Gibt
Credits, Credit Points – als Kredit für höhere Position,
bessere Bezahlung. Man will nicht eigentlich
Bildung, sondern Aufstieg durch Bildung.
Karriere als Zweck, Bildung als Mittel. Bildung
ist der Preis, den bezahlen muss, wer nach oben
will.
Meinetwegen. Bleibt nur die Frage: Werden
wir dank der wunderbaren Vermehrung von
MA- und MBAlern besser? Ökonomisch, technologisch,
kulturell? Hoffentlich. Besser werden
heisst: findiger werden, gewitzter, inspirierter,
erfinderischer. Ganz konkret in der Berufspraxis,
nicht bloss in theoretischen Kompetenzen. Ulrich
Bremi sagte kürzlich: Wir müssten wieder zum
Wunderfitz werden. Kann man den Wunderfitz
lernen? Jedenfalls nicht durch Verabreichung
von Wissen. Er ist mehr eine Sache von Temperament,
Charakter, Lust auf Wahrnehmung, Vergnügen
an der Sache, Selbstironie, Humor. Dafür
gibt es keinen MBA.
Das Problem ist: Wir verwechseln konsequent
Bildung mit Lernen. Wer lernt, eignet sich etwas
an: Kompetenzen, Routine, Techniken, Wissen.
Wer sich bildet, bildet sich: bringt sich in eine
kritische Haltung, in Kreativform, in neugierige
Verfassung. Bildung ist somit sehr viel mehr als
Lernen. Die allermeisten Angebote auf dem Weiterbildungsmarkt
aber sind Lernangebote. Die
Gefahr dabei ist, dass theoretische Schablonen
die Praxis überlagern, dass das Subjekt zum Behälter
von Powerpoint-Klugscheissereien wird.
An einem besonders schiefen Beispiel erklärt:
Weiterbildung im Küssen. Gibt es. Denn: «Ein
guter Kuss kommt nicht von alleine.» O Schreck,
dachte ich, seit 65 Jahren küsse ich naturalistisch
drauflos, kein Zertifikat, null Credits. Was
bietet der Kurs? Zunächst jede Menge kulturgeschichtliche
Theorie: «Die alten Chinesen glaubten,
dass küssende Menschen einander auffressen
wollen.» Nicht schlecht. «Für Eskimofrauen
ist die Zunge das wichtigste Werkzeug.» Was
sonst? Usw. Schliesslich – wie in jeder Weiterbildung
– ein paar praktische Tipps: «Vorher Zähne
putzen», «Schokolade essen» … Mir reicht’s. Ich
bleibe lieber bei meinem naturalistischen Dilettantismus,
küsse als Liebhaber, nicht als Methodiker.
Will damit – möglichst absurd – nur zeigen, wie
der Fortbildungshase läuft: Er spricht allem,
was uns eben noch selbstverständlich schien,
die Selbstverständlichkeit ab – und unterwirft
es einer methodischen Professionalität. Die Experten
nähren den Argwohn gegen unsere eigene
Findungs- und Urteilskraft. Sie reden uns
ein, ohne permanentes Herunterladen neuester
Programme pfuschten wir hoffnungslos veraltet
drauflos. Der Effekt: Wir überschätzen das
allgemeine Wissen – und unterschätzen unsere
höchst persönlichen Sensorien. Unseren Willen,
unsere Cleverness, unsere Pfiffigkeit, unsere
Leidenschaft. Wunderfitz. Ohne dies hilft
der ganze Wissenskram nicht weiter. Wissen ist
allgemein, kann jeder haben. Wir müssen aber,
wie gesagt, besser werden – oder jemand anderes
wird besser. Im Wissen sind alle gleich.
Besser wird, wer – mit dem Wissen – mehr
will, mehr Unternehmungslust hat, mehr Inspiration,
mehr Leidenschaft. Ist beim Küssen so.
Im Fussball. Im Marketing. In Unternehmensführung.
Darum mein Titel: Qualität aus Leidenschaft.
Sehen wir uns mal um auf dem aktuellen Feld
der Qualität. Qualität hat Konjunktur. Jedenfalls
als Geschäftsfeld für Qualitätskontrolle. Im Alltag
merke ich wenig davon. Wo ich hinsehe –
Pfusch und Ramsch, halbbatzige Ware, schludrige
Dienstleistung. Am neuen Veston (1370
Franken) lottern die Knöpfe; der PC, kürzlich generalüberholt
(360 Franken), stürzt schon wieder
ab; die Zeitung («das Blatt für kluge Köpfe») mutet
mir verwahrloste Texte zu.
Die Liste alltäglicher Schlampigkeiten liesse sich
beliebig fortsetzen. Verspätung am Bahnhof,
Druckfehler in Büchern, Bibelignoranz auf der
Kanzel, Geschmacklosigkeit in der Architektur,
Mikrowellenfood im Restaurant, Infektion im
Spital, Ramsch am Fernsehen … Meine Packung
Läkerol muss ich jedes zweite Mal mit den Zähnen
aufbeissen, die Firma ist unfähig, den Reissfaden
praktikabel zu installieren. Dies alles, obwohl
das Q-Business boomt wie nie zuvor in
der Geschichte der Menschheit. Kein Management
ohne Qualitätsmanagement. Keine Firma,
keine Schule, kein Fussballclub ohne Qualitäts –
zertifikat.
Was ist hier los? Die gelassene Antwort lautet:
Errare humanum est. Wir arbeiten unter irdischen
Bedingungen; Perfektheitserwartungen vertagen
wir besser aufs Jenseits. Nur: Der Mensch
lebte immer schon unter irdischen Bedingungen –
und produzierte doch nie so viel Schrott wie
heute. Warum ausgerechnet heute? Bei unserer
hochentwickelten Technik, mit unserer flächendeckenden
Bildung? Pauschalerklärungen sind
rasch zur Hand: die Schnelllebigkeit der Zeit, das
Tempo des Wandels, die Kurzatmigkeit der Moden,
die Just-in-time-Produktion, die «Geiz ist
geil»-Mentalität, die komplexe Organisation, in
der sich keiner mehr verantwortlich fühlt.
Alles plausibel. Trotzdem bleibt es ein Skandal,
dass zum Beispiel das Mittelalter, diese angeblich
so dunkle, barbarische Welt ohne Technik,
ohne Wissenschaft, ungleich qualitätsbewusster
zu Werk ging. Es baute hundert Jahre an einer
Kathedrale, mühsamst, alles von Hand, und
dabei so akkurat und solide, als wäre sie für die
Ewigkeit, überdies ästhetisch hinreissend, im
grossen Ganzen wie im geringfügigsten Detail.
Verglichen damit sind wir qualitätsvergessene
Pfuscher, Kurzfriststümper; unsere Hochhäuser
müssen nach 50 Jahren totalerneuert, gar abgerissen
werden, Autobahnen sind nach zehn Jahren
unbefahrbar.
Fällt Qualität dem Zeitgeist zum Opfer? Immerhin
gibt es – um in der Ostschweiz zu bleiben –
die Textilindustrie. Bischoff, Schläpfer, Forster-
Willi; Kriemler mit seiner Weltmarke Akris. Alle
hinreissend qualitätsverrückt am Werk. Aber
sind die irgendwie repräsentativ – oder eher
Überbleibsel einer handwerklichen Qualitätstradition?
Sicher sind es Maniacs, Angefressene,
Passionierte. Mit der Passion zum Besseren,
dem Leiden am Erstbesten. Aber tun sie das freiwillig?
Keine Ahnung. Ich vermute bloss: Ohne
diese altmodische Qualitätsbesessenheit wären
sie weg vom Fenster, in ihrem Fall ist Qualität
schlichte Überlebensstrategie.
Doch sonst? Kommt Qualität vielleicht doch von
Qual? Gibt es heute so wenig davon, weil es aus
der Mode geraten ist, sich an der Sache abzuquälen?
Bleiben wir erst mal nüchtern: Qualität
kommt vom lateinischen quale, und das bedeutet
wie. Dieses Wie grenzt sich ab vom Was (res)
und vom Wieviel (quantum). Dass Quantität nicht
automatisch in Qualität mündet, ist trivial; das
weiss jeder Casanova, der 712 Frauen vernascht –
und doch nie erfährt, was Liebe mit einem anstellen
kann.
Weniger populär ist das Verhältnis zwischen
dem Wie (Qualität) und dem Was (Sache). Sie
aber kennen das. Jeder Chef weiss: Was er sagt,
ist durchaus wichtig, doch entscheidend wird,
wie er es sagt. Das Wie macht den Meister.
Auch die Meisterköchin. Züri Gschnätzlets kann
jeder Banause zubereiten. Fragt sich bloss, wie.
Die Meisterköchin unterscheidet sich vom Dilettanten
nicht durch Tricks und Schaumschlägerei,
ihre Raffinesse dient dem einzigen Zweck, Kalbfleisch
und Rösti optimal zur Geltung zu bringen,
deren Eigengeschmack entfalten zu lassen. Das
Wie muss das Was lieben. Dann wird es Qualität:
Höhenflug der Sache. Ein Hosenanzug ist
keine Hexerei. Die Akris-Leute aber erfinden ihn
jedes Jahr neu, tüfteln unermüdlich an neuen
Formen, Stoffen, Farben, ruhen nicht, bis sie die
Qualität der letzten Saison übertreffen. Das Was
ist keine Kunst, das Wie bleibt unerschöpflich –
wie der Liebesbrief: sein Inhalt ist seit König Salomo
konstant, seine Form grenzenlos variabel.
Zwischenhalt. Zweierlei wollte ich plausibel machen.
Zunächst faktisch: Es grassiert eine auffällige
Qualitätsverluderung. Sodann begriffsathletisch:
Qualität als permanentes Raffinieren des
Wie – zur Steigerung des Was.
Mein Pensum hier ist nun nicht, Ihnen klipp und
klar zu sagen, was genau Sie zur Qualifizierung
Ihrer Arbeit unternehmen sollen. Erstens wäre
ich damit überfordert. Zweitens sind Sie auf dem
Wolfsberg, um Ihre Köpfe durchzulüften, nicht
um sich stur in Ihre Alltagsprobleme zu verbohren.
Also nehme ich Sie mit auf einen Spaziergang
– durch eine kleine Soziologie der Qualität.
Die Stationen heissen: 1. Die Flexibilitätsfalle.
Gesellschaftliche Konditionen der Qualität. 2.
Die Erlebnisfalle. Individuelle Konditionen der
Qualität. 3. Der Chefsteg. Nur Führung rettet
Qualität.
I. Die Flexibilitätsfalle.
Gesellschaftliche Konditionen der Qualität
Alle reden heute von Kompetenzen. Was kann die
Frau? Was beherrscht der Mann? Als ich Leute
einstellte, fragte ich nach dem Wie. Ob Kompetenzen
da sind, ist rasch gecheckt. Entscheidend
aber ist, ob hinter dem Kompetenzen-Portfolio
noch jemand lebt, der mit diesen Kompetenzen
etwas im Sinne hat, etwas Besonderes, Einmaliges,
ob ein Wille da ist, diese Kompetenzen auf
die Spitze zu treiben, eine Leidenschaft zur Sache,
eine Lust aufs Bessere, eine Begier auf Perfektionierung.
So etwas kommt aus der Person,
nicht aus Kompetenzen. Dazu muss man den
Menschen kennenlernen, nicht seine Ausweise.
Der Mensch und sein Wille zur Qualität. Das ist
keine Naturkonstante, das hängt vom gesellschaftlichen
Milieu ab. Noch einmal Mittelalter,
die Legende von den drei Steinmetzen. Jeder
wird gefragt: «Was machst du hier?» Der erste
sagt: «Ich haue hier Steine.» Der zweite antwortet:
«Ich verdiene hier meinen Lebensunterhalt.
» Der dritte aber sagt: «Ich baue mit an der
wunderbaren neuen Kathedrale unserer Stadt.»
Welcher von den dreien ist der Glücklichste?
Welcher bringt die beste Qualität? Sie wissen
es. «Ich baue an der wunderbaren neuen Kathedrale
unserer Stadt.» Der Satz drückt aus: Meine
Arbeit hat einen Sinn, nicht nur einen Zweck.
Sie erfüllt mich, lässt mich teilhaben an etwas
Bedeutendem, Grossem, für die Allgemeinheit
Wichtigem. Für dieses Grosse, Wichtige setze
ich mich rückhaltlos ein, denn es bereichert
mich selbst, da achte ich auf Qualität, will meine
Arbeit nicht nur gut machen, sondern immer
besser. Arbeit nicht nur als Produkteproduktion.
Arbeit mit Sinnüberschuss. Gibt es das noch – in
unserer flexiblen Zeit?
In seinem Buch «Der flexible Mensch» illustriert
Richard Sennett den Wandel der Arbeit
an zwei Lebensläufen. Zunächst die Biografie
aus der Zeit, als der Mensch noch nicht flexibel
sein musste. Enrico war Hauswart in einem
Verwaltungsgebäude in Boston. Sein gesamtes
Arbeitsleben lang. Tag für Tag dieselben Verrichtungen,
lauter Routine. Das Gute daran: ein
feststehender Kontext, garantiertes Einkommen,
gesicherte Pension; sozial wohldefiniert,
klare Stellung in der Gesellschaft, konstante
Beziehungen zu Nachbarn, Anerkennung durch
konformes Verhalten; berechenbare Lebensperspektive,
Sparen für ein Haus, für die Ausbildung
der Kinder. Alles in allem eine geschlossene Vita,
nichts Besonderes, aber doch eine eindeutige
Identität, eben darum das Gefühl, Subjekt seiner
Geschichte zu sein, Autor seines Lebens, dazu
eine gehörige Portion Selbstachtung und Selbstverantwortung.
Und jetzt die zweite Geschichte. Eine Geschichte
aus der neuen, flexiblen Zeit. Rico, der Sohn
Enricos, macht Karriere. Zwei Studienabschlüsse,
eine Frau, die ähnlich erfolgreich ist, häufiger
Ortswechsel. Äusserlich glänzend, sozial ohne
Halt, null nachbarschaftliche Beziehung, keine
dauerhaften Freunde, das lästige Gefühl, das
Leben nicht selber zu gestalten, den wechselnden
Anforderungen des Marktes nachzurennen,
die Angst, nicht mehr zu genügen, abgehängt zu
werden. Unter der Hektik des Alltags die Melancholie
der Leere; keine Dauer, keine Tiefe, kein
Charakter.
Soweit die beiden Lebensläufe. Was bedeuten
sie für unsere Frage nach Qualität? Enrico, der
Vater mit seinem eingeschränkten, doch konstanten
Wirkungskreis, lebt im Bewusstsein,
«es kommt auf mich an»; die Arbeit nährt sei nen Stolz, darum bringt er sie nicht hinter sich,
er sucht sie, er sitzt in ihr, er will sie nicht gut,
er will sie immer besser machen, er arbeitet an
der zeitgemässen Kathedrale, dem Verwaltungsgebäude,
an ihm liegt es, dass darin alles glatt
läuft. Ist Qualität am Ende eine Frage der Sesshaftigkeit?
Rico, der nicht mehr sesshafte Sohn,
der Managertyp, hat ein gravierendes Problem
mit Qualität: Er ist so sehr mit seinem eigenen
Überleben beschäftigt, dass er weder Zeit noch
Energie findet, das Unternehmen sorgfältig zu
qualifizieren. Mit der Kontinuierlichkeit schwindet
die Qualität.
So weit Richard Sennetts Blick auf Qualität in
flexiblen Zeiten. Ich kann ihn bestätigen. Als ich
in der Chefredaktion der «Weltwoche» arbeitete,
bewarb sich eine Germanistin als Kulturchefin.
Ich fragte sie nach ihrer Lieblingsautorin. Ich
mag irgendwie alle, sagte sie. Was sie denn gerade
aktuell lese? Sie suche jetzt einen Job, da
komme sie nicht zum Lesen. Was sie vom gegenwärtigen
Schauspiel halte? Im Theater war
sie seit Jahren nicht, jedoch – und jetzt kommt’s
– wenn sie den Job kriege, interessiere sie sich
sogleich auch fürs Schauspiel. Damit war sie als
Kulturchefin für mich erledigt.
Obwohl ich sie verstehen konnte. Kein vitales
Interesse, schlimm, doch warum sollte sie sich
in Unkosten stürzen mit Interessen, nach denen
dann doch keiner fragt? Flexibel bleiben hiess
für sie: surfen statt eintauchen, switchen statt
anbeissen. Eine rationale Reaktion. In flexiblen
Zeiten werden wir Nomaden. Hat seinen Reiz.
Für Qualität problematisch. Warum soll ich, auf
Abruf nur, mich beharrlich um Verbesserung bemühen?
Wer erwartet es von mir? Wer dankt es
mir? Übermorgen mache ich schon anderswo
Halt. Was soll da Qualität? Wo es einzig darum
geht, sich über die Runden zu bringen. Qualität
in der Arbeit aber lebt von der Leidenschaft zur
Sache. Ich muss mich mit der Sache anfreunden.
Dazu brauche ich Zeit, eine verlässliche Perspektive,
eine mittlere Sicherheit, dass die Sache mir
nicht gleich wieder abhandenkommt. Überdies
den Glauben, dass es sich lohnt, meine Fantasie
an diese Sache zu verschwenden.
Spült die Flexibilisierung diese Bedingungen
weg? Kathedralen bauen wir nicht mehr. Aber
Unternehmen können wir so führen, dass die
Angestellten sich nicht als nomadisierende «Human
Resources» vorkommen. Das schafft nur,
wer unbeirrbar Qualität vor Quantität setzt – eine
Klugheit, die nicht nur Grossbanken gerne vernachlässigen.
Quantenbolzen, eine Torheit, die
sich immer rächt. Qualität vor Quantität – das beginnt
schon bei der Rekrutierung des Personals:
Menschenkenntnis statt Kompetenzen-Check.
Welcher Menschentyp sorgt für Qualität? Beobachten
Sie mal in der Migros die Frauen an den
Kassen. Manche sitzen nur physisch da, hantieren
mechanisch, der Kopf ist bei der Telenovela
«Julia», beim verknorzten Date von gestern. Die
eine aber sitzt in der Zolliker Migros an ihrer Kasse,
ich sehe sogleich: Sie macht die Kasse zu ihrem
Reich, hier ist sie die Königin, keine Spur von
Handlangermentalität. Gestern kaufte ich Brot,
Salat, US-Beef. «72.30 Franken», sagte sie, musterte
mich listig und fügte hinzu: «Wissen Sie,
das Fleisch ist so teuer.» Donnerwetter, welch
eine Geistesgegenwart. Sie nahm vorweg, was
in meinem Kopf ablaufen könnte. Diese Frau
würde ich sofort einstellen. Sie lehnt es ab, als
Angestellte zu funktionieren, sie macht sich zum
Subjekt ihres Jobs, zur Autorin ihrer Arbeitsgeschichte.
Nur bei diesem Menschenschlag ist
man sicher, dass er auf Qualität achtet. Weil er
es zum eigenen Vergnügen tut. Also: Leute einstellen,
die den Job persönlich nehmen, die sich
mit der Sache befreunden – und ihnen ein Biotop
schaffen, das diese Freundschaft begünstigt.
Vom sogenannt «neuen Angestellten» wird das
komplette Engagement erwartet, der Einsatz
seiner Person, nicht nur seiner zwei, drei Tüchtigkeiten.
Also muss man ihm durch langfristige
Entscheidungen Sicherheit geben, ihm einen Ort
quasi-familiärer Freiheit einräumen, antizyklisch
zur Wetterwendigkeit der Zeit. So entgingen Unternehmen
der Flexibilitätsfalle – und würden,
weil nur so Angestellte sich entfalten, wie von
selbst zu Gewächshäusern für Qualität. Ohne
permanentes Q-Management.
II. Die Erlebnisfalle.
Individuelle Konditionen der Qualität
Wir leben in der Erlebnisgesellschaft. In der
Trivialversion heisst das: Kaum sind wir die materielle
Not los, kümmern wir uns nur noch um
unser mickriges privates Glück (Nietzsche). In
der Filigranversion bedeutet es: Vom äusseren
Existenzkampf befreit, konzentrieren wir uns
auf die innere Befriedigung; doch der berufliche
Erfolg misst sich weniger an seinen Wirkungen
nach aussen als an der subjektiv empfundenen
Lebensqualität. So wandelt sich der Gehalt von
Qualität: weg vom Verbessern der Lebensumstände,
hin zum Optimieren der Lebensgefühle.
Qualität verschiebt sich von der Leistungsqualität
zur Erlebnisqualität.
Gerhard Schulze, der Soziologe der «Erlebnisgesellschaft
», argumentiert so: «Überflussgesellschaften
» entlasten uns weitgehend vom
Lebensnotwendigen – belasten uns jedoch sogleich
neu: mit Orientierungsleistungen. Anders
als früher sind wir nicht durch Herkunft festgelegt,
weder beruflich noch sozial, noch im Lebensstil.
Wir müssen uns selber wählen, und
je mehr Optionen da sind, umso aufwendiger
wird die Wahl, umso drastischer die Strapazen.
Jeder ist seines Glückes Schmied. Der Zwang,
die Regie unseres Leben selber zu übernehmen,
verweist uns auf unser «Innenleben». Ich muss
unablässig herausfinden, was zu mir passt, was
meiner subjektiven Vorliebe entspricht. Zwangsläufig
wird die eigene Person zum Nabel der
Welt, Erlebnisorientierung zum Mass aller Dinge.
Das nagt an der herkömmlichen Leistungsqualität.
Die Dominanz des Erlebens bremst die Bereitschaft
aus, Arbeitsabläufe und -produkte zu
perfektionieren. Wozu soll die Sekretariatsleiterin
den Briefversand digitalisieren, wenn Briefmarkenkleben
sie happy macht? Qualität kommt
eher aus Mangelerfahrungen als aus Hochgefühlen.
Nicht dass Qualität nur von Unglücklichen zu
erwarten ist, die Miesepeter nörgeln dann doch
nur herum. Sicher aber entspringt Qualität einem
zwiespältigen Bewusstsein. Irgendwo zwischen
vergnügt – und doch nie rundherum happy. Die
Happy-Fraktion hat ja alles, wozu sollte sie nachbessern?
Die Mecker-Fraktion wiederum glaubt
nie an Besserung. Die Mischung macht es. Jene
heitere Unruhe, die mir sagt, es müsste trotz allem
Guten etwas Besseres geben. Ein besseres
Leben, bessere Arbeit, bessere Produkte.
Das wäre die individuelle Kondition für Qualität.
Ein eher unzeitgemässer Menschenschlag, der
nicht nur für sich schaut, sondern alles um sich
in Hochform bringen will. Kompetenzen reichen
da nicht aus. Qualität entspringt dem Sinn für
Möglichkeiten: im Menschen, in Dingen, in Organisationen.
Der Möglichkeitssinn vereint zwei
unterschiedliche Talente: den illusionslosen Blick
auf das, was ist, und die träumerische Vorstellung
von dem, was sein könnte. Spielt beides
zusammen, wird Qualität unvermeidlich.
Ich will es Ihnen an der Geschichte des Steve
Jobs illustrieren. Der Apple-Mann, einer der erfolgreichsten
Männer der Gegenwart, hat nicht
einmal einen College-Abschluss. Der 17-jährige
Steve hatte weder Geld noch eine Idee, was er
mit seinem Leben anfangen sollte, wohl aber einen
Traum vom guten, schönen Leben. Eines Tages
fiel ihm der Aushang eines Kalligrafie-Kurses
am Reed-College auf. Schon lange hatte er auf
dem Campus die handgeschriebenen Plakate
und Aufschriften bewundert. So schön wollte er
es nun selber können. Er lernte Schriftarten, die
subtilen Abstände zwischen den Buchstaben,
was gute Kalligrafie halt ausmacht. Kalligrafie!
Was für ein altmodisch nutzloser Zopf! Aber so
schön! Jobs liebte sie, und wer liebt, fragt nicht,
ob es sich rechne.
Zehn Jahre später sass Jobs in einer alten Garage
und bastelte mit Freunden am Macintosh-
Computer. Er erinnerte sich seiner kalligrafischen
Künste – und der Mac wurde zum ersten
Computer mit einer gediegenen, variantenreichen
Typografie. Hätte Jobs damals den Kurs
nicht zwecklos besucht, wäre der Mac wohl nie
zum Welterfolg avanciert. Zumal Jobs’ Traum
vom Schönen, Besseren sich aufs Design überhaupt
erstreckte. Mac ist bis heute – anders als
Windows – der PC, den wir lieben. Wir sehen es
ihm an: Er ist das Produkt nicht eines Geschäftemachers,
sondern eines Lebenserotikers.
Das ist der Menschenschlag, der Qualität bringt.
Am Anfang bewundert er zwecklos das Vollkommene,
in Jobs’ Fall die Kalligrafie. Dann fällt ihm
an den Realitäten die Unvollkommenheit auf –,
und er ruht nicht, sie zu perfektionieren, zu raffinieren,
auf Vollkommenheit hin zu bewegen.
Voraussetzung ist also ein bestimmter Blick auf
die Dinge: der Blick, der die Dinge im Lichte ihrer
Möglichkeiten erblickt, ihre Entfaltungschancen
sieht. Jobs ist darin ein Naturtalent. Wohl auch,
weil sein Blick unverbildet war, unverstellt durch
Raster-zertifizierte Kompetenzen-Portfolios. Da
er mit keiner fachlichen Qualifikation protzen
konnte, musste er sich qualifizieren, als Erotiker
der Möglichkeiten, nicht als Bewirtschafter des
eigenen Erlebnishaushalts. Jobs schuf Qualität
aus Leidenschaft zum Computer, aus Liebe zur
Kalligrafie. An seine individuelle Lebensqualität
denkt er bis heute nicht. Die stellt sich nebenher
von selbst ein, wenn wir selbstvergessen bei der
Sache sind.
Die Flexibilitätsfalle. Die Erlebnisfalle. Beiden entgehen
wir nur als Steve-Jobs-Typen, als Erotiker
des Besseren – nicht als Kompetenzenverwalter,
nicht als Ego-Freaks. Wir müssen Qualität selber
zum Erlebnis machen. Natürlich können nicht
alle zur Steve-Jobs-Hochform auflaufen. «Der
Durchschnittliche gibt der Welt ihren Bestand»,
sagt Oscar Wilde, «der Aussergewöhnliche ihren
Wert.» Doch heute, wo der Bestand nichts,
der Wertgewinn alles zählt, müssten Unternehmen
rigoros auf Aussergewöhnliche setzen: auf
Inspirierte, Findige, Gewitzte, Fantastische. Nur
nicht auf Abwickler, Bürokraten. Nach Kennedys
Motto: «Wer einmal im Leben mit dem Zweitbesten
vorliebnimmt, erreicht immer wieder
nur das Zweitbeste.» Man kann auch mit dem
Zweit- oder Drittbesten Erfolg haben. Doch man
verpasst damit das Leben.
III. Der Chefsteg.
Nur Führung rettet Qualität
Kurze Schlussschlaufe. Zurück zu meiner Titelthese:
Qualität durch Leidenschaft. Die These
ist – hoffentlich – einigermassen klar. Bleibt die
Frage: Wie schaffen wir das? An Leidenschaft
zu appellieren? Wäre albern. Mit Leidenschaft
verhält es sich wie mit der Vernunft: Die wenigstens
Menschen fahren von Natur aus auf sie ab.
Also müssen sie zur Leidenschaft verführt werden.
Durch die, die sie führen. Führen läuft nicht
ohne eine Portion Verführen. Um mit den alten
Griechen zu sprechen: Wer führt, muss Fackeln
entzünden, nicht Fässer abfüllen. Fässer abfüllen
= Gescheitheiten absondern. Fackeln entzünden
= Leidenschaft wecken.
Leidenschaft weckt nur die exemplarisch leidenschaftliche
Führung. Da hapert es. Die meisten
Chefs funktionieren rein rational, mal mehr, mal
minder überzeugend. Sie halten ihre Mitarbeiter
für vernünftige Wesen. Selber schuld.
Menschen sind zunächst Resonanzautomaten.
Durchaus begeisterungswillig, doch eher selten
aus eigenem Antrieb, kaum aus eigener Einsicht.
Zur Leidenschaft wollen sie verführt, mitgerissen
werden. Hirnforscher erklären das mit der
Theorie der Spiegelneuronen. Die geht, grob
gezeichnet, so: Der Mensch ist nie ein selbständiges,
in sich geschlossenes Wesen. Eher der
Spiegel der andern. Vor allem emotional. Experimente
zeigen: Lächelt unser Gegenüber auch
nur unmerklich, lächeln wir zurück. Wirkt es verbiestert,
sinkt auch unser Stimmungspegel. Diese
Bereitschaft, spontan den emotionalen Ausdruck
anderer zu spiegeln, mogelt sich sogar an
unserer Selbstkontrolle vorbei, sie passiert uns,
unwillkürlich.
Das bedeutet: Wer leidenschaftlich qualitätsvernarrte
Mitarbeiter will, muss selber so sein.
Und zwar sichtbar. Körperlich, sinnlich. Es ist mit
Chefs wie mit Lehrerinnen. Erinnern Sie sich an
die Zürcher Krawall-Klasse? In drei Jahren sechs
Lehrer geschlissen. Jetzt ist die siebente dran,
eine 25-jährige Lehrerin. Schafft sie es? Ja, sagt
eines der renitenten Mädchen: «Ich seh’ es an
ihrem Gesicht.» Was sieht man im Gesicht der
Lehrerin? Die Augen, die lebhaften? Die Augen,
die Fenster zur Seele. Was sieht man in den Augen?
Die Freude am Lernen? Die Lust, etwas zu
leisten? Das Vergnügen, andere in Hochform zu
bringen? Dann ziehen die Schüler mit. Sie lernen,
weil sie in den Augen der Lehrerin sehen, wie
toll es ist, zu lernen. Nicht weil die Lehrerin die
neueste Didaktik gelernt hat.
So läuft das unter Menschen. Wir verkehren
nicht von Hirn zu Hirn. Sondern sinnlich: von
Auge zu Auge, von Ohr zu Ohr, von Hand zu
Hand. In der Schule wie in der Firma. Das Leben,
ein einziges Resonanztheater. In diesem Theater
entscheidend ist, wer den Ton angibt. Man kann
die Spiesser-Fraktion das Klima versauen lassen.
Dann hat der Chef versagt. Der Ton ist Chefsache.
Er ist der Dirigent, die Mitarbeiter sind das
Orchester. Das Orchester spielt die Musik. Der
Dirigent bestimmt Tonart, Rhythmus. Damit sich
das überträgt, muss er selber der Rhythmus
sein, den er von seinen Leuten erwartet.
Konkret. Der Chef kann ins Leitbild schreiben:
«Bei Mercantor arbeiten die Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen leidenschaftlich an Qualität.»
Er kann es eben so gut bleiben lassen. Erstens
liest kein gesunder Mensch Leitbilder. Zweitens
stiften Leitbilder null Leidenschaft. Dazu braucht
es das leibhafte Leitbild, den Chef, die Chefin.
Sie müssen verkörpern, was sie wollen: als
fleischgewordene Leidenschaft – zur Qualität,
zum Besseren, noch Besseren. Das muss man
sehen, nicht lesen: an der vergnügten Art, wie
die Chefin morgens ins Büro kommt, am beschwingten
Gang, an den neugierigen Augen.
Dann denken alle, grosser Gott, ist das eine
Chefin, die freut sich unbändig, dass sie wieder
einen Tag beginnt, an dem sie hartnäckig an der
Qualitätsschraube dreht, das Gute um Finessen
verbessert, um Nuancen verfeinert. Sie wirkt
dabei so heiter, dass alle kapieren: Qualität mag
eine Qual sein, doch aus dieser Qual kommt das
wahre Leben.
Die Leidenschaft zur Qualität – die Tankstelle
des Glücks. Das glaubt keiner. Ausser, er sieht
so eine Tankstelle. Eine andere Verführung zur
Qualität aus Leidenschaft gibt es nicht.
Das selbstverwirklichende Ich im Mittelpunkt
Diese Entwicklung geht zugleich einher mit einem typischen Mechanismus, der
Veränderungen in gesellschaftlichen Systemen initiiert und treibt: Die Kritik der
Gesellschaft am bestehenden System. Im Falle der Entwicklung vom Konzern- zum
Netzwerkkapitalismus beschreiben Chiapello und Boltanski zwei Formen der Kritik:
Sozialkritik und Künstlerkritik. Die Sozialkritik wurde von den Organisationen der
Arbeiterbewegung getragen, die den Kapitalismus als Quelle von Ausbeutung
und Ungleichheit sahen. Durch entsprechende Neustrukturierungen der Arbeitswelt
in den 1970er- und 1980er-Jahren gelang es, die Sozialkritik weitestgehend gegenstandslos zu machen. Dann gab es die Künstlerkritik, deren Träger Intellektuelle
und Künstler waren. Sie richtete sich gegen Normierungstendenzen, Entfremdung
und kühle Bilanzierung, die die Entfaltung, Kreativität, Authentizität, Individualität
des Einzelnen und die Vielfältigkeit in der Gesellschaft einschränken würden. Das
eigenverantwortliche, sich selbst verwirklichende, unabhängige Individuum in
den Mittelpunkt rückend, erwirkte die Künstlerkritik ein neues Verständnis und eine
Befürwortung neuer Arbeitsplatzstrukturen und Unternehmensorganisationen,
geprägt von Mechanismen wie Mitsprache, Mitgestaltung, Selbstorganisation und
Vertrauen statt Kontrolle.